Beliebt, unbeliebt, beliebig - 6- oder 8-Punkt-Braille?

Offener Brief vom Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder


Das Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder hat sich auf seiner Sitzung am 27. September 2001 in Leipzig eingehend mit dem Beschluss des Arbeitskreises der Leiterinnen und Leiter der Bildungseinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte (in Deutschland) vom 18. Mai 2001, in allen Blindenbildungseinrichtungen in Deutschland spätestens ab Sommer 2003 den Schrifterwerbsunterricht von 6- auf 8-Punkt-Braille umzustellen, beschäftigt. Das Brailleschriftkomitee ist ein siebenköpfiger gewählter Ausschuss der Brailleschriftkommission der deutschsprachigen Länder, dessen Aufgabe darin besteht, als Braille-Autorität im deutschsprachigen Bereich für die Einhaltung der in den Systematiken zur Blindenschrift festgelegten Regeln zu sorgen, in umstrittenen Darstellungsfällen rasch eine Regelung herbeizuführen sowie auf neuere Tendenzen auf dem Gebiet des Einsatzes und der Vermittlung von Punktschrift zu reagieren. Im Brailleschriftkomitee vertreten sind:

Nach intensiver Diskussion entschied das Brailleschriftkomitee einstimmig, den o.g. Beschluss aus folgenden Überlegungen heraus abzulehnen:

  1. Die Eurobraillezuordnungstabelle als "Erweiterung des 6-Punkte-Systems von Louis Braille" zu verstehen, ist historisch und sachlich falsch. Beim 8-Punkt-Eurobraille haben wir es vielmehr mit einem Spezialpunktschriftsystem zu tun, das unter der Zielvorgabe der Schaffung einer 1:1-Zeichenzuordnung gegen Ende des vorigen Jahrhunderts als Schrift zur Schreibkontrolle für Blinde am Computer entwickelt wurde. Im Unterschied zu allen Punktschriftsystemen (nicht nur des deutschsprachigen Raums), deren Regelsystem sich stets vom Ziel der Optimierung des Leseflusses leiten ließ und lässt, ist diese Zielbestimmung für das Eurobraillesystem keineswegs kennzeichnend und als Vorgabe zur Ausarbeitung der Zuordnungstabellen nie formuliert worden.

    Eine "Erweiterung" des 6-Punkt-Systems von Louis Braille stellt Eurobraille allein schon deshalb nicht dar, weil es die Kernidee des Blindenschrifterfinders, nämlich die Anzahl zulässiger Punkte genau auf 6 zu beschränken, missachtet.
  1. Aus der Zielvorgabe zur Festlegung des Eurobraillesystems ergibt sich zwingend, dass bei dieser Schrift auch im Bereich des 6-Punkt-Anteils einer 8-Punkt-Braillezelle extrem schwierig zu ertastende Punktkonstellationen zur Wiedergabe diverser Zeichen benutzt werden müssen, die in keinem 6-Punkt-System der Welt als taktile Repräsentanten selbstständiger Symbole vorkommen. Zu erwähnen sind die Redeanführungs-und −schlusszeichen (ausschließlich Punkt 4) sowie das Ausrufezeichen (Punkt 5).
  1. Unter Punktschriftlesern unbeliebt, weil schwierig zu ertasten, sind nicht nur die Punktsymbole, bei denen ausschließlich die rechten Punkte einer 6-Punkt-Braillezelle eingesetzt werden (siehe oben unter Punkt 2), sondern auch die untersten Punkte einer 8-Punkt-Brailleform, also die Punkte 7 und 8. Letztere vergrößern die pro Zeichen abzutastende Fläche um gut 33 %. Dies führt nicht nur zu einer entsprechenden Vergrößerung des Volumens der Printmedien, sondern hat vor allem schwerwiegende Tastsensibilitätsprobleme zur Folge. Die Ausdehnung von Schriftzeichen in vertikaler Richtung fordert vom tastend lesenden Menschen eine gleichmäßig verteilte Tastsensitivität in einem entsprechend größeren Bereich der Fingerkuppe des Zeigefingers. Dieser Anforderung werden wir Menschen physiologisch gar nicht gerecht. Dieses biologisch-physiologische "Unvermögen" mit pädagogischen Mitteln bekämpfen zu wollen, hieße, Don Quichotte im Kampf mit Lanzen gegen Windmühlen nachzueifern.

    Im Eurobraille müssen aber viele Zeichen die Punkte 7 und/oder 8 aufweisen: die Großbuchstaben, die deutschen Umlaute, das Eszett und diverse Sonderzeichen.
  1. Aus dem Zwang zur Nutzung der untersten beiden Punkte einer 8-Punkt-Braillezelle ergibt sich außerdem, dass im Unterschied zum 6-Punkt-Braille beim Eurobraille vom lesenden Menschen die qualitativ neue Fähigkeit erwartet wird, zwischen großen und kleinen vertikalen Leerräumen zwischen zwei gesetzten Punkten unterscheiden zu können. Man denke beispielsweise an die Darstellung der Buchstaben "m" (kleiner vertikaler Abstand) und "C" (identische Anordnung von Punkten, diesmal mit großem Abstand) oder "k" (linksseitig zwei gesetzte Punkte mit kleinem Abstand) und "A" (linksseitig zwei gesetzte Punkte mit großem Abstand) beim Eurobraille. Mit dem gleichen Problem haben wir es zu tun, wenn es um die Differenzierbarkeit von "n" und "D" oder von "o" und "E" im 8-Punkt-System geht. 6-Punkt-Braillesysteme können auf das beschriebene zusätzliche Differenzierungsvermögen als Anforderungskriterium an potentielle Nutzer grundsätzlich verzichten.
  1. Das Argument der schlechten Lesbarkeit des Eurobrailles lässt sich nicht - wie häufig geschehen - mit dem Hinweis auf die spezifische Lesesozialisation derjenigen widerlegen, die die schlechte Lesbarkeit (siehe Punkte 2-4 und 9) heute konstatieren; denn viele Kritiker der 8-Punkt-Brailleschrift arbeiten tagtäglich parallel mit 6- und 8-Punkt-Systemen - und das seit vielen Jahren, manche seit fast zwei Jahrzehnten.
  1. Wer "den Schrifterwerb auf der Basis von Euro- Braille" propagiert, steht zwangsläufig in der Pflicht, den am pädagogischen Prozess beteiligten Personen und Einrichtungen mitzuteilen, welche der drei Eurobrailletabellen zu verwenden ist:


    Hierüber findet sich im Protokoll kein Hinweis. Was tun?
  1. Es liegt in der Natur des Eurobraillesystems, dass es nicht erweiterbar ist. Das verhindert das Prinzip der 1:1-Abbildung und der vorgegebene Umfang des Zeichensatzes von 256 Elementen. Gängige Zeichen sind im normierten Bereich der obigen Zeichensatztabellen überhaupt nicht vorgesehen. Zu nennen sind z.B. das Euro-Zeichen und das Zeichen für Promille.

    Im Unterschied zum Eurobraille sind 6-Punkt-Braillesysteme keineswegs auf 256 Zeichen beschränkt, und sie lassen sich überdies jederzeit ausbauen. Dies ermöglicht das in allen 6-Punkt-Systemen der Welt vorzufindende Prinzip der Ankündigungstechnik. Die Ankündigungsmethode erlaubt die Darstellung von Zahlen, die Differenzierung zwischen Klein- und Großbuchstaben, die Darstellung akzentuierter Buchstaben, die Wiedergabe von Hervorhebungen, die Integration von mathematisch-naturwissenschaftlichen Termen, von fremdsprachigen Einschüben auf der Basis des landesspezifischen Blindenschriftsystems, von Eurobraillesequenzen usw., ohne dass für die "Kernsymbole" jeweils neue Punktmuster definiert werden müssen. In 6-Punkt-Systemen mit Ankündigungstechnik sind wesentlich mehr als 64 oder 256 Zeichen darstellbar. 6-Punkt-Schriftsysteme sind jederzeit in der Lage, sich geänderten Darstellungstechniken und -gewohnheiten der Schwarzschrift flexibel anzupassen. Warum sollten diese Chancen nicht genutzt werden?
  1. Das Eurobraillesystem ist keineswegs aufwärtskompatibel zu den bisherigen 6-Punkt-Textsystemen Basisschrift, Vollschrift und Kurzschrift. Aus systematischer Sicht ergibt sich ein pädagogisch-didaktisch schwer zu vermittelnder (weil unnötiger) "Systembruch" beim Übergang von Eurobraille zu den gängigen Punktschriftsystemen auf 6-Punkt-Basis. Vermeidbare Systembrüche stellen jedoch bekanntlich immer wichtige kontraproduktive Faktoren im Hinblick auf die Entwicklung der Motivationsbereitschaft der Lernenden dar.
  1. Es ist davon auszugehen, dass Menschen im Laufe ihrer Biografie im Durchschnitt mehr lesen als sie schreiben. Auf diesem Hintergrund ist bei der Auswahl von Schriftsystemen stets primär die Lesetauglichkeit zu prüfen. Keinem Mitglied des Brailleschriftkomitees der deutschsprachigen Länder ist auch nur ein einziger blinder Mensch direkt oder über andere bekannt, der behauptet, dass 8-Punkt-Braille ähnlich gut oder gar besser als 6-Punkt-Braille zu lesen ist. Wie können NichtPunktschriftAnwender unterstellen, dass sich alle Punktschrift lesenden Menschen in einer solch fundamentalen Frage ihrer Kommunikationskompetenz schon immer geirrt haben und auch heute weiterhin irren?
  1. Die Behauptung einer "erhöhten Rechtschreibsicherheit" bei der Verwendung von 8-Punkt-Eurobraille im Vergleich zur Nutzung eines der 6-Punkt-Systeme ist gedanklich nicht nachvollziehbar und empirisch haltlos. Alle 6-Punkt-Textsysteme kennen eindeutige Regeln zur Ankündigung von Groß- und Kleinbuchstaben, die jeden Blinden in die Lage versetzen, anhand seiner Blindenschriftausgabe eines Textdokuments präzise feststellen zu können, welche Buchstaben in der Originalvorlage groß und welche klein geschrieben sind. Die diesbezüglichen Regeln lassen sich in drei schlichten Sätzen zusammenfassen.
  1. Das Vorgehen, sich bei der Entscheidung für das 8-Punkt-Eurobraille als Schriftsystem im Erstlese- und Erstschreibunterricht auf bestimmte wissenschaftliche Begleituntersuchungen zu berufen, ist unseriös. Untersucht wurde die Lesetechnik von lediglich fünf blinden Kindern (mit extrem stark differierenden Leseleistungen) in Schleswig-Holstein und das Leseverhalten von gar nur vier blinden Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen. Der wissenschaftliche Leiter hat in öffentlichen Diskussionen bekanntlich selbst eingeräumt, seine Untersuchungen könnten nicht als empirisch abgesichert gelten.
  1. Der Beschluss, im Mathematikunterricht künftig die Notation des aus den USA stammenden Satzsystems LATEX zu verwenden, ist voreilig gefasst worden. Warum?


    Es müsste also vor der Einführung von LATEX als Notation für mathematische Terme eine für den Blinden- und Sehbehindertenbereich verbindliche Regelung der angesprochenen Fragestellungen erfolgen. An diese Festlegungen müssen sich dann auch sämtliche Lehrkräfte im segregierten und integrierten Schulunterricht halten.
  1. Der Beschluss, im Mathematikunterricht künftig auf die 6-Punkt-Mathematikschrift komplett zu verzichten und ausschließlich LATEX-Schreibweisen zu verwenden, ist unbegründet und unrealistisch. Die "Internationale Mathematikschrift für Blinde" (Marburger Systematik) findet im Schriftenkanon des Protokolls überhaupt keine Erwähnung mehr, obwohl sie sich insbesondere bei der schulischen Ausbildung Blinder über Jahrzehnte bewährt hat und auch heute noch als Standard anzusehen ist. Welche Begründung soll einen derart gravierenden Systemwechsel rechtfertigen, und wer führt die erforderlichen Fortbildungsmaßnahmen für Lehrer und Umsetzungsdienste (Medienzentren, Punktschriftdruckereien, Privatpersonen) durch?
  1. Der Umstieg von 6- auf 8-Punkt-Braille als Schriftsystem im Erstlese- und Erstschreibunterricht ist mit zusätzlichen Kosten verbunden. Das Angebot an 8-Punkt-Schreibmaschinen auf dem Weltmarkt ist nicht gerade üppig, und 8-Punkt-Schreibtafeln zum Anfertigen handschriftlicher Notizen sind überhaupt nicht erhältlich. Letztere müssten erst entwickelt werden. Wer kommt für den finanziellen Mehraufwand auf, der durch die notwendige Beschaffung von Schreibgeräten für 8-Punkt-Braille entsteht? Wie erklären Blinden- und Sehbehindertenschulen, die - wie im Land Nordrhein-Westfalen - erst kürzlich mit 6-Punkt-Schreibgeräten neu ausgestattet worden sind, ihren Kostenträgern den plötzlichen "Sinneswandel"?
  1. Im Zeitalter der Globalisierung sind isolierte nationale Sonderwege höchst problematisch. Wenn der AK-Beschluss vom 18. Mai 2001 tatsächlich realisiert würde, wäre Deutschland das einzige Land der Erde, in dem blinde Kinder im Anfangsunterricht nicht im 6-Punkt-System unterwiesen würden. Der Einwand, blinde Kinder kommunizierten in den Eingangsklassen nicht mit Kindern in anderen Ländern, weil sie deren Sprache (noch) nicht beherrschten, ist allein schon deshalb nicht stichhaltig, weil in den südlichen Nachbarstaaten Deutschlands sehr wohl deutsch gesprochen und geschrieben wird.
  1. Der Beschluss vom 18. Mai 2001 stellt einen Alleingang der Leiterinnen und Leiter deutscher Bildungseinrichtungen für Blinde dar, der weder mit den Selbsthilfeorganisationen der Blinden und Sehbehinderten noch mit den anderen Organen und relevanten Gremien des Verbands der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen und −pädagoginnen und schon gar nicht mit den zuständigen Braille-Gremien (Brailleschriftkomitee oder Brailleschriftkommission) in irgendeiner Form abgestimmt wurde. Er kann daher nur die Legitimation dieses einen Gremiums für sich beanspruchen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Frage des Einsatzes von 6-Punkt- oder 8-Punkt-Braille keinesfalls beliebig ist. Mit ihrer Beantwortung werden im Gegenteil zentrale Weichen gestellt und wichtige Entscheidungen getroffen. Es wurde dargelegt, dass das Bestreben der Punktschriftanwender, am 6-Punkt-Braillesystem als Standardschrift der Blinden auch im deutschsprachigen Bereich festzuhalten, nicht nur von emotionaler Beliebtheit getragen wird, sondern sehr wohl rational begründet ist. Es wurde gezeigt, dass die Unbeliebtheit des 8-Punkt-Eurobrailles nicht sozialisationstheoretisch und auch nicht mit der Mutmaßung eines natürlichen Bestrebens der Menschen, an Bekanntem festzuhalten, zu erklären ist. Auch die Metapher eines "Religionskampfs" erweist sich als untauglicher Erklärungsansatz. Die kritische Haltung gegenüber 8-Punkt-Braillesystemen basiert vielmehr auf empirisch konstatierbaren und argumentativ erfassbaren Fakten.

Das Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder fordert den Arbeitskreis der Leiterinnen und Leiter der deutschen Blindenbildungseinrichtungen auf, bei nächster Gelegenheit den Beschluss vom 18. Mai 2001 zurückzunehmen und zur Diskussion mit den Beteiligten zurückzukehren. Das gesamte Brailleschriftkomitee erklärt sich bereit, in einem gemeinsamen Gespräch mit den Arbeitskreismitgliedern die in Frage stehenden Probleme auf der nächsten AK-Sitzung zu diskutieren.


Richard Heuer gen. Hallmann, Dortmund
Leiter des Arbeitsbereichs "Audiotaktile Medien" der Fernuniversität Hagen, Vorsitzender des Brailleschriftkomitees und der Brailleschriftkommission der deutschsprachigen Länder)

Vivian Aldridge, Basel
(Verband der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen und -pädagoginnen)

Rudi Leopold, Witten
(Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband, DBSV)

Ernst-Dietrich Lorenz, Hannover
(Obmann des DIN-Ausschusses "Kommunikationshilfen für sensorisch Behinderte" und Eurobraille-Entwickler)

Dr. Rose-Marie Lüthi, St. Gallen
(Schweizerische Blindenschriftkommission)

Prof. Erich Schmid, Wien
(Österreichischer Blinden- und Sehbehindertenverband, Vorsitzender des Fachnormenausschusses "Computerbraille" im Österreichischen Normungsinstitut)

Thomas Schwyter, Zürich
(Schweizerische Bibliothek für Blinde und Sehbehinderte)


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